Redebeitrag zum Sommerfest "Gemeinsam unter freiem Himmel" am 28.8.2023

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Auf dem Bild sitzt eine ältere Frau auf einer zusammengerollten Isomatte vor einer Hausecke auf dem Bordstein. Sie trägt dicke, überwiegend schwarze Klamotten und hat sich einen orange-roten Schal um den Kopf und eine helle Decke um die Beine gewickelt. Neben ihr liegt ein schwarz-grauer Einkaufstrolley und vor ihr steht ein Pappbecher zum Spendensammeln. Das Bild ist auf der linken Seite von einem halbrunden violett- und fliederfarbenen Bogen gerahmt. Unter dem Bild ist ein grüner Balken, darin steht in vi
28. August 2023

Hallo liebe Anwesende,

mein Name ist Lotte Steinhauer und ich bin Mitarbeiterin des Frauennotrufs Koblenz.
Wir sind eine Fach- und Beratungsstelle zum Thema Sexualisierte Gewalt. Unser Angebot umfasst die Beratung betroffener Frauen* und Mädchen* ab 14, die Beratung von Bezugspersonen, Angehörigen und Fachkräften sowie Präventions-, Öffentlichkeits- und politische Arbeit.
Deshalb stehe ich heute hier und spreche über den Zusammenhang von Wohnungslosigkeit und geschlechtsspezifischer, insbesondere sexualisierter Gewalt. Wem das zu viel ist oder zu nah geht, kann sich jederzeit zurückziehen oder bei meiner Kollegin am Infostand melden.

Ich möchte mit einer Zahl starten: Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren 2012 90% der wohnungslosen Frauen in ihrem bisherigen Leben von sexualisierter Gewalt betroffen. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl immer noch aktuell ist. 90%, das heißt 9 von 10 Frauen sind betroffen.
Aus der Beratung wissen wir, dass jede 3. Frau in der EU ab ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexualisierte Gewalt und jede 7. Frau in Deutschland seit ihrem 16. Lebensjahr einen strafrechtlich relevanten sexuellen Übergriff erlebt hat. Darunter fallen eine Vergewaltigung, eine versuchte Vergewaltigung oder auch Nötigung. Doch sexualisierte Gewalt umfasst weitaus mehr als diese Form körperlicher Übergriffe. Sexualisierte Sprache, frauenfeindliche Witze, Küsse oder Berührungen an den Brüsten, im Schritt oder am Gesäß ohne Einverständnis sind ebenfalls Formen sexualisierter Gewalt. Und betroffen sind zum Großteil Teil Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen, fast jede von uns kennt solche Übergriffe. Denn sexualisierte Gewalt ist eine Ausprägung von geschlechtsspezifischer Gewalt.

Geschlechtsspezifische Gewalt beschreibt, dass Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen aufgrund ihres Geschlechts abgewertet, gedemütigt, ausgeschlossen oder angegriffen werden. Es geht den Tätern – hauptsächlich Männern – darum, ihre Macht zu demonstrieren und sich alles nicht-männliche unterzuordnen. 

Diese Gewalt findet allerdings nicht nur zwischenmenschlich statt, sondern ist auch strukturell bedingt und in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen verankert. Es gibt zum Beispiel den Gender Pay Gap: Frauen verdienen in Deutschland im Durchschnitt 22% weniger Geld als Männer, die den gleichen Job machen. Außerdem übernehmen Frauen aufgrund von traditionellen Rollenbildern immer noch häufiger unbezahlte Arbeit, wie die Kindererziehung, die Pflege von Familienmitgliedern oder die Hausarbeit, wie kochen, waschen und putzen. Das führt zu einer ökonomischen Abhängigkeit von Männern und einem erhöhten Risiko für Altersarmut bei Frauen.

Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen haben aufgrund ihres Geschlechts schlechtere Bildungs- und Aufstiegschancen im Beruf und werden auch durch das Gesundheitssystem benachteiligt, da beispielsweise der Großteil aller Medikamente nur an Männern getestet wird. Wir erleben also sowohl strukturelle Diskriminierung als auch direkte Gewalt durch – vor allem männliche – Arbeitskollegen, Beziehungspartner oder Familienangehörige.

Behinderte oder von rassistischen Zuschreibungen betroffene Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen erleben eine noch stärkere Diskriminierung, da sie nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Fähigkeiten sowie aufgrund ihrer Hautfarbe vielen Vorurteilen ausgesetzt sind. Sie sind mehrfach betroffen und daher besonders verletzlich.

Diese strukturellen und direkten Gewalterfahrungen, die für Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen zum Alltag gehören, führen oft dazu, dass wir psychisch und körperlich belastet sind. Wir entwickeln Angststörungen oder eine Suchtmittelabhängigkeit, haben öfter Schmerzen, können nicht mehr arbeiten, unsere Kinder versorgen oder unsere Freund*innenschaften pflegen und trauen uns aufgrund von Scham und Schuldgefühlen nicht, um Hilfe zu bitten. In Kombination mit der ökonomischen Abhängigkeit, in der die meisten Frauen, trans* und intergeschlechtlichen Personen leben, und sich anhäufenden Schulden können diese Faktoren zum Verlust der Wohnung führen. Vielleicht können wir die Miete nicht mehr zahlen, vielleicht laufen wir vor einem gewalttätigen Partner weg, vielleicht wurden wir aufgrund eines Outings von unserer Familie verstoßen – viele Gründe zwingen Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen dazu, ihre Wohnung aufzugeben.

Allerdings leben weitaus weniger Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen offen auf der Straße. Sie leben regelmäßig in der sogenannten verdeckten Wohnungslosigkeit – sprich in prekären Wohnverhältnissen ohne mietrechtlichen Schutz. Zum Beispiel bei Bekannten auf Zeit, in viel zu engen Räumen oder in der Wohnprostitution. Diese Wohnverhältnisse schaffen erneut eine enorme Abhängigkeit und bieten den Rahmen für weitere Übergriffe und Gewalt. Aber auch in gemischtgeschlechtlichen Unterkünften der Wohnungslosenhilfe kann es sowohl durch die anderen Bewohner als auch durch Fachkräfte zu erneuten Bedrohungssituationen und Übergriffen kommen.

Auf der Straße sind Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen ebenfalls Anfeindungen und körperlichen Angriffen ausgesetzt. Die gesellschaftliche Frauen- und Transfeindlichkeit setzt sich fort und wird kombiniert mit der Stigmatisierung von Armut, Wohnungslosigkeit und teilweise Rauschmittelkonsum zu einer risikoreichen, bisweilen lebensbedrohlichen Lage für die Betroffenen.
Beziehungen zu männlichen Wohnungslosen können gegebenenfalls Schutz vor bedrohlichen Situationen bieten. Doch nicht selten setzen sich frühere gewaltvolle Beziehungserfahrungen und traditionelle Rollenmuster auch in diesen Beziehungen fort. Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen dienen als Statussymbol, werden objektifiziert und manchmal als „Tauschmittel“ für eine Unterkunft, einen Gefallen oder Rauschmittel entmenschlicht und missbraucht.

Die erlebte Gewalt, die zur Wohnungslosigkeit geführt hat, setzt sich also immer weiter fort und wird verstärkt. Der Zugang zum Hilfesystem ist durch die verschiedenen Abhängigkeitsverhältnisse einerseits und die Destabilisierung der psychischen Gesundheit andererseits massiv erschwert. Diese Gewalterfahrungen sind potenziell traumatisch und können nur dann aufgearbeitet werden, wenn die Existenz gesichert und ein sicherer Rückzugsraum gewährleistet ist – das ist in der Wohnungslosigkeit zu keinem Zeitpunkt der Fall.
Deswegen erleben wir in der Beratungsstelle nur selten, dass Betroffene unser Angebot wahrnehmen. In der Regel sind die Bedürfnisse nach einer Unterkunft oder der Geldbedarf dringlicher als die psychosoziale Beratung und Begleitung bei der Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse.

Es bedarf daher geschlechtsspezifischer Maßnahmen der Wohnungslosenhilfe und -prävention.
Dazu gehören insbesondere Schutzräume für Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen und entsprechende Einrichtungen ohne männliche Fachkräfte sowie getrennte Sanitärräume und Schlafplätze in gemischtgeschlechtlichen Unterkünften.

Auf politischer Ebene muss eine ökonomische Gleichberechtigung erfolgen und die Wohnräume – beispielsweise für alleinerziehende Mütter – müssen erhalten und der soziale Wohnungsbau gefördert werden. Seit 2018 gilt in Deutschland außerdem die Istanbul-Konvention, ein Menschenrechtsabkommen zum Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Darin wird ebenfalls eine Sensibilisierung für und Prävention von Gewalt gegen wohnungslose Frauen, trans* und intergeschlechtliche Personen gefordert. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schließt sich an, in dem sie Gewaltschutzkonzepte für Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sowie die Teilnahme an den Runden Tischen zu Gewalt gegen Frauen fordert. Die Stadt Koblenz befasst sich mit dieser Thematik in einem Konzept für weibliche Wohnungslose.

Der Frauennotruf Koblenz unterstützt die Bemühungen um den Gewaltschutz in der Wohnungslosenhilfe. Wir bieten Betroffenen und Fachkräften kostenlose, anonyme und vertrauliche Beratung – sowohl telefonisch oder online, als auch persönlich in der Löhrstraße 64a. Darüber hinaus können wir beispielsweise in Form eines Workshops haupt- und ehrenamtlich Tätige ausführlicher zu sexualisierter Gewalt und deren Folgen aufklären sowie erste Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung von Betroffenen vermitteln oder Fallsupervisionen durchführen. Betroffene haben außerdem die Möglichkeit, sich von einer Vertrauensperson zur Beratung begleiten zu lassen oder im Falle einer Strafanzeige die Anschrift des Frauennotrufs als Ladungsadresse bei Gericht und Polizei anzugeben. Weiterführende Informationen zu unserer Arbeit und unserem Angebot, sowie zur Situation von Frauen in der Wohnungslosigkeit liegen auf unserem Infotisch für Sie bereit.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!